Die Zeit kommunizieren
Wie unterschiedliche Kulturen die Zeit kommunizieren
Zeit ist zu einer begehrten Ressource geworden. Viele unserer Aktivitäten drehen sich darum, wie wir unsere Zeit «managen», «einsetzen» oder «investieren». Zeit sei Geld, heisst es.
Dank raffinierten Technologien messen wir die Zeit heute mit hoher Präzision. Und weil die offizielle Zeitmessung heute weltweit einheitlich ist, neigen wir dazu, zu glauben, dass die Wahrnehmung der Zeit für alle Menschen gleich ist. Das ist sie nicht.
Die Wahrnehmung von Zeit unterscheidet sich von Kultur zu Kultur. In der heutigen vernetzten Welt, in der interkulturelle Kommunikation unabdingbar geworden ist, ist es essentiell, sich dieser unterschiedlichen Wahrnehmungen bewusst zu sein. Wieso ist dieses Bewusstsein wichtig und wie kann es interkulturelle Kommunikation positiv beeinflussen?
Die Ansichten, die der Zeitmessung zu Grunde liegen
Menschen haben vor ungefähr 30'000 Jahren begonnen, die Zeit zu messen. Zu Beginn waren Zeitmessungssysteme eher rudimentär. Die Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften in Sibirien, Japan oder Südamerika orientierten sich an Zyklen der Natur und des Mondes (Quelle). Sie benannten Monate und Jahreszeiten nach bestimmten natürlichen Phänomenen, wie zum Beispiel der Blütezeit eines Baumes, der Paarungszeit der Tiere oder dem Wetter. Ob eine Woche fünf oder neun Tage dauerte war nicht entscheidend.
Im Lauf der Zeit sind die Formen, wie wir Zeit kommunizieren, präziser geworden. Heute zählen wir jeden Tag im Kalender und teilen sie in «Morgen», «Mittag», «Nachmittag» und «Abend» ein. Wenn mehr Details gefragt sind, setzen wir ein zahlenbasiertes System mit 24 Stunden ein, die normalerweise in Hälften, Viertel und Minuten aufgeteilt werden.
Dieses System existiert in allen Kulturen Europas und alle europäischen Sprachen haben darum eine ähnliche Strategie, es zu beschreiben. Auf Deutsch nennt man 14:45 Uhr «Viertel vor drei» oder «Dreiviertel drei», während dieselbe Zeit auf Englisch «ein Viertel zu drei» und auf Spanisch «drei minus einen Viertel» genannt wird.
Nach diesem Zeitmessungssystem sehen wir die Zeit so, als ob sie sich auf einer Achse vorwärts bewegen würde. Wir verstehen das Vergehen der Zeit als linear. Wir «schauen in die Zukunft» und machen Pläne, indem wir Zeitspannen «antizipieren» oder sagen, dass die Zukunft «vor uns» liege.
In anderen Teilen der Welt wird der Zeitverlauf anders wahrgenommen. Sprecher des Aymara in den Anden sehen die Vergangenheit als vor ihnen liegend (Buch-Quelle). Sie zeigen nach hinten über ihre Schulter wenn sie über die Zukunft sprechen. Das mag für einen Sprecher des Deutschen ungewöhnlich klingen. Tatsächlich ist die Zukunft uns aber unbekannt, während wir die Vergangenheit betrachten können. Es gibt Sprachen, die über gar keine Vergangenheitsform verfügen, was darauf hindeutet, dass die Vergangenheit für Sprecher solcher Sprachen weniger bedeutend ist als die Gegenwart und die Zukunft. Solche Sprachen zeigen uns, dass unsere Wahrnehmung davon, wie die Zeit vergeht, nicht universell ist, sondern von unserer Kultur geprägt wird.
Tücken des Zeitmanagements in der interkulturellen Kommunikation
Auch das Zeitmanagement ist in verschiedenen Kulturen unterschiedlich. In westlichen Kulturen wird die Zeit digital mit höchster Präzision gemessen, weil komplexe Transportsysteme, internationale Lieferketten und auch unser individuelles Zeitmanagement stark von Pünktlichkeit abhängen.
Dementsprechend gilt Zeit als «wertvoll». Sie «ist Geld». Wir werden nach Arbeitsstunden bezahlt und letztendlich auch nach der Zeit, die wir in unsere Ausbildung investiert haben, um unsere Fähigkeiten zu erlangen. Wir wählen sorgfältig, mit wem wir unsere Zeit verbringen, und wir betrachten es als ein Ausdruck von Respekt, wenn wir die Zeit anderer nicht «vergeuden».
Auch in der Schweiz ist Pünktlichkeit zentral, weil sie Respekt gegenüber dem Zeitmanagement einer anderen Person ausdrückt. Man sollte in der Schweiz weder zu früh noch zu spät kommen, sondern immer pünktlich. Es erstaunt nicht, dass eine Kultur, die dem Zeitmanagement einen hohen Stellenwert einräumt, die weltbeste Uhrenindustrie hervorgebracht hat.
In anderen Kulturen ist Pünktlichkeit weniger zentral. So ist in vielen nicht-europäischen Kulturen die Zeitlesung meist vager, insbesondere dann, wenn digitale Zeitmessung unüblich ist. Im Afroamerikanischen Englisch und im nigerianischen Pidgin-Englisch wurde die digitale Zeit als die Zeit «der weissen Leute» bezeichnet und sie drückte eine höhere Verpflichtung zur Pünktlichkeit aus.
Wenn Pünktlichkeit weniger wichtig ist, liegt der Fokus darauf, wieviel Zeit mit jemandem verbracht wird. In Südamerika wird man eher dafür kritisiert, nicht genug Zeit für jemanden zu haben. Denn die gemeinsam verbrachte Zeit baut einen gemeinsamen Kontext auf und ist darum quasi gleichbedeutend mit Vertrauen oder Intimität: Je mehr Zeit miteinander verbracht wird, umso mehr Vertrauen wird aufgebaut.
Das hat natürlich einen Einfluss auf Geschäftsbeziehungen. Geteilte Freizeitaktivitäten wie Golf oder eine gemeinsame Studienzeit bilden oft die vertrauensvollsten Geschäftsbeziehungen. Wenn Menschen einander durch gemeinsame Aktivitäten kennen, teilen sie einen gemeinsamen Kontext, der es ihnen erlaubt, Geschäfte «ohne viele Worte» zu vereinbaren. Verkaufsleute in diesen Kulturen wissen, dass Kundenbeziehungen stark vom persönlichen Kontakt und einem gemeinsamen Mindset abhängen. Eine solche Basis aufzubauen, ist zunächst zeitaufwendig, zahlt sich langfristig aber aus.
Die Zeit sprachlich kommunizieren
Auch wenn sich unsere Wahrnehmung von Zeit unterscheidet, sprechen wir ständig über sie. «Bis wann bleibst Du heute im Büro?» «Wann werdet Ihr Eure Eltern besuchen?» «Wie lange braucht er, um eine Entscheidung zu treffen?» Unsere Sprache hat effiziente Strategien, um diese Fragen sehr präzise zu beantworten. Als Sprecher machen wir davon aber nicht immer Gebrauch.
Normalerweise besprechen wir die Zeit so, wie wir es in unseren Muttersprache gelernt haben. Wenn das Gegenüber ein anderes Verständnis von Zeit hat oder eine andere Sprache spricht, sind Missverständnisse häufig. Unter nicht muttersprachlichen Sprechern des Englischen gibt es manchmal Missverständnisse, da einzelne Wörter in anderen Sprachen eine andere Bedeutung haben. Viele Deutschsprecher verwechseln zum Beispiel die Bedeutung von «by» und «until», die beide auf Deutsch «bis» bedeuten.
Eine noch grössere Herausforderung stellen zeitbezogene Adverbien wie «bald» oder «jetzt» dar. Diese Wörter geben die Zeit im Bezug auf den jetzigen Moment an. Sie beziehen sich allerdings nicht immer für alle Sprecher auf den gleichen Zeitrahmen – nicht einmal dann, wenn sie die gleiche Sprache sprechen. Die Bedeutung von solchen Adverbien hängt vom Kontext ab, weil sie an ein kontextgebundenes Verständnis von Unmittelbarkeit und Pünktlichkeit gebunden sind.
Im Spanischen gibt es zwei äusserst häufige zeitangebende Wörter: «ahora» («jetzt») und «ahorita» («jetztchen»). Ersteres bedeutet meistens «genau jetzt», während Letzteres irgendetwas zwischen «gerade jetzt in diesem Moment» und «vielleicht in ein paar Stunden, vielleicht auch nie» bedeuten kann. Was das Wort in einem gewissen Kontext bedeutet, wird früh gelernt. Meine Tochter hat mir einmal entschieden mit einem «no Mamá, no ahorita, ahora!» geantwortet, als ich meine Hilfeleistung mit einem «ahorita» aufschieben wollte. Es kommt häufig vor, dass sich Spanischsprecher aus unterschiedlichen Ländern missverstehen, weil sie fälschlicherweise annehmen, ihr «ahorita» bedeute dasselbe. Der Kontext ist immer relevant.
In interkultureller Kommunikation können wir solches Kontextwissen aber nicht als gegeben erachten. Es ist wichtig, explizit zu sein. Als interkulturell kompetente Sprecher müssen wir die Zeit so präzise angeben, dass keine Missverständnissen entstehen. Geben Sie die Zeit in Zahlen an wenn Sie mit Menschen aus anderen Kontexten sprechen, unabhängig davon, ob Sie Ihre Muttersprache oder eine Zweitsprache sprechen. Und wenn Sie Wörter wie «jetzt», «jetzt gleich», «ahorita» oder «heute Nachmittag» gebrauchen, dann erwähnen Sie die Uhrzeit oder Zeitdauer. Zeit ist keine Selbstverständlichkeit.
Über die Autorin
Danae Perez ist eine vielseitige Sprachexpertin mit langjähriger Erfahrung in Forschung und Privatwirtschaft und einer ansteckenden Leidenschaft für Menschen und Sprachen. Sie ist promovierte Sprachwissenschaftlerin und hat ihre Forschung über Sprachwandel in mehrsprachigen Kontexten bei den renommiertesten Verlagen publiziert. Seit fast zwei Jahrzehnten bietet Danae Perez Sprachdienstleistungen und Beratung für Kunden und hat in einer Vielzahl von Ländern, Kulturen und Sektoren gearbeitet. Sie hat die seltene Gabe, die Essenz einer Nachricht schnell zu verstehen und sie in die richtigen Worte zu fassen. Dadurch gelingt es ihr, die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Menschen, Kulturen und Disziplinen zu vereinfachen.